Scham ist okay!

Sind wir cool, wenn wir mit unseren Kindern über alles reden (wollen) – oder überfordern wir sie? Wir fragten Jugendberaterin und Autorin Laura Melina Berling.

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© privat

Da sind zwei Knubbel in der Brust und ausgerechnet jetzt ist Mama auf Dienstreise – und nur Papa da. Der verfällt dezent in Panik, geht mit seiner Selma aber fürsorglich zum Kinderarzt. Die „Diagnose“: Aus dem Mädchen wird eine junge Frau. So beginnt Laura Melina Berlings und Hannah Rödels im Vorjahr erschienener Aufklärungsroman – und er ist so hin- und mitreißend und zugleich informativ verfasst, dass man ihn – ob erwachsen oder Teenager – nicht aus der Hand legen mag. „Selma, Küsse, Kuddelmuddel“ schlug auch prompt dermaßen ein, dass das Duo gleich noch mal zur Tat schritt. Schon das erste Werk richtet sich nicht allein an Mädchen, schließlich sollen Burschen und Väter ebenso über Periode und Co. Bescheid wissen. Im zweiten Buch spielen die Hauptrolle vielmehr Yunus, Selmas bester Freund, und all die körperlichen Veränderungen, mit denen vorwiegend Burschen konfrontiert sind. Dabei folgen beide Bücher einem besonderen Konzept: Laura Melina Berling bettete quasi die Aufklärung häppchenweise in ihre Jugendromane, Hannah Rödel schuf zauberhaft pointierte Illustrationen dazu. Unser Tipp: Am besten liest die ganze Familie beide Bücher. Als Vorgeschmack baten wir Laura Melina Berling, ihres Zeichens auch erfolgreiche Bloggerin aus Frankfurt (Insta: @littlefeministblog), zum Interview.

Meine Töchter fanden deine Selma toll, wie gelang dir ein so guter Draht zu Teenagern? Erzähl ein bisschen über dich.

Laura Melina Berling: Ich bin 35 Jahre alt und werde auch Lina genannt. Ich hab’ einen Bachelor in Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik und einen Master in Theaterpädagogik. Eine Zeit lang habe ich freiberuflich Theaterprojekte gemacht, danach bin ich in die feministische Mädchenarbeit gewechselt: Ich war fünf Jahre lang in einem Jugendzentrum für Mädchen. Dort habe ich gemerkt, dass bis heute die Räume fehlen, offen über Dinge zu sprechen wie erste Periode und der Körper verändert sich. Die Mädchen haben schnell Vertrauen aufgebaut, ich war überrascht, wie groß der Bedarf dafür war. Ich hab’ dann extra Gelder beim dortigen Frauenreferat beantragt – für das „Period Project“. Wir haben uns viel mit der Menstruation beschäftigt, es gab eine Lesung, die Mädchen haben einen Film gedreht, wir haben Entspannungsworkshops gegen Schmerzen gemacht und viel geredet. Aus dieser Zeit kommt sehr viel Inspiration für unsere „Selma“. Heute mache ich Online-Beratung für junge Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind – und schreibe an meinem dritten Buch, diesmal über Liebeskummer für Erwachsene.

Du schreibst auch für verschiedene Medien und bloggst. Was wünschst du dir für unsere Gesellschaft?

Gleichberechtigung. Unsere Gesellschaft ist in vielen Dingen nicht fair; es wird uns immer vermittelt, dass alle alles schaffen können, aber das stimmt nur für wenige Menschen. Es kommt doch auf bestimmte Start­voraussetzungen an. Zudem gibt es Dinge wie strukturelle Diskriminierung, sexualisierte Gewalt und Übergriffe auf Frauen, queere Personen und teilweise auch auf Männer. Wenn es auch ein bisschen kitschig klingt: Ich wünsche mir das gute Leben für alle in einer gleichberechtigten Gesellschaft, in der die Menschen die gleichen Voraussetzungen und Möglichkeiten haben.

An wen richtet ihr eure Bücher?

Hannah Rödel und ich haben das Konzept zusammen entwickelt, uns viele Gedanken über die Charaktere gemacht, um vor allem junge Menschen am Anfang der Pubertät zu erreichen. Altersmäßig kann das ein bisschen unterschiedlich sein, für manche passt es ab 10 Jahren, für andere mit 14. Für ein Alter, in dem sich der Körper und die Themen zu verändern beginnen.

Wie beschreibst du eure Bücher?

Es sind lustige, unterhaltsame Geschichten über Freund*innenschaft, Pubertät, Stress mit den Eltern. Dazu gibt’s Illustrationen, die zu bestimmten Themen eingebettet sind, damit Aufklärung ein bisschen nebenher passiert. Zu viel Offenheit kann überfordern und Scham ist ja erst mal auch okay, man muss es nicht wegradieren. Wir wollen einfach spielerisch, comicartig an das Thema rangehen.

Wie erlebst du die Kids in der Pubertät heute?

Die Jugendlichen wachsen mit ­Social Media auf, ich stelle mir das sehr fordernd vor und das erschwert manchmal auch den Zugang zu ihnen. Man wird noch leichter gemobbt, weil es ja auch anonym bleiben kann. Die Themen haben sich vielleicht gar nicht so verändert, aber die Methoden. Umgekehrt habe ich das Gefühl, dass die Jungen oft mehr wissen als wir früher. Mädchen sagen heute, sie sind in einer toxischen Beziehung, wenn sie schlecht behandelt werden, das hätte ich damals nicht so benennen können.
Bis heute ist es nicht leicht, wenn man zum Beispiel lesbisch oder trans ist, aber es ist sichtbarer und bekannter als früher; über Social Media finden die Jugendlichen schneller Leute, bei denen sie sich denken: „Oh, die sind ja wie ich.“ Sie wissen auch mehr über Sexismus und Rassismus Bescheid, trotzdem hört es leider nicht auf. Mein Ansatz ist schon: Die Jugendlichen fühlen sich heute insgesamt ähnlich, wie ich mich gefühlt habe – vor allem überfordert mit der Pubertät und den Veränderungen des Körpers.

Aufklärung mit Herz und Schmäh: Auszüge aus Laura Melina Berlings und Hannah Rödels Jugendromanen

Erste Periode: Welche Produkte gibt’s heute für Mädchen?

Nachhaltige Varianten sind der Schwamm, der nach der Verwendung gewaschen wird, Periodenunterwäsche, wo quasi die Binde in die Unterhose integriert ist – und was ich persönlich toll finde: die Menstruationstasse (siehe auch S. 54). Mein Leben hat es erleichtert, weil ich es länger benutzen kann als einen Tampon, ich habe seltener Blasenentzündungen und mache weniger Müll; sie kann ausgekocht werden. Ganz junge Mädchen haben da aber meistens noch nicht so Lust darauf und greifen lieber zu den klassischen Produkten wie Tampons und Binden.

Und was ist aktuell beim Thema Verhütung?

Das Kondom ist weiterhin das einzige Verhütungsmittel, das vor Krankheiten schützt, das ist klar. Insgesamt ist die Situation bei der Verhütung leider weiterhin gar nicht gleichberechtigt. Es gibt nach wie vor die Pille für die Frau, aber bis heute wenig Aufklärung darüber, was das alles mit dem Körper macht. Mir tat sie nicht gut. Theoretisch gibt es zwar auch schon eine Pille für den Mann, aber die kommt einfach nicht auf den Markt, was echt ätzend ist. Spiralen oder alternativ die Temperatur-Methode würde ich ganz jungen Mädchen nicht empfehlen. Klar war die Pille mal eine große Errungenschaft, aber dass die Verantwortung bis heute bei der Person mit Uterus bleibt, ist eine Unverschämtheit (siehe auch S. 54). Aber wenn es schon so ist, sollte man sich die Kosten in der Partnerschaft zumindest teilen.

Wie weit kann man mit den eigenen Kindern über all diese Themen reden, ohne sie zu überfordern?

Die Frage ist immer, inwiefern man Gespräche schon früher etabliert hat. Ich würde mir eine Gesprächskultur wünschen, in der es ganz normal ist, über Gefühle zu sprechen oder wenn es mal einen Streit gibt. Dann nimmt man auch die Aufklärung von Anfang an mit. Es gibt sehr schöne Aufklärungsbücher, die auch diverser sind. Man muss auch damit leben, dass Pubertät eine Zeit der Abkapslung ist, aber Gesprächsangebote finde ich immer gut. Meine Mutter hat es damals ganz offen bei mir probiert, das hat mich total überfordert (lacht). Deswegen haben wir das Buch gemacht, weil es nicht ganz so direkt ist. Wir haben keine abfotografierte Vulva da drinnen, wir haben eine nette Methode gewählt, um ein bisschen Distanz herzustellen. Ich finde es auch gut, den Kindern einfach Materialien zur Verfügung zu stellen. Die sagen dann: „Ich hab keinen Bock drauf“, und lesen es dann doch heimlich. Ich habe früher auch Dr. Sommer im Bravo verschlungen, aber ich wünschte, ich hätte andere, kritischere Sachen gehabt. Da wurden oft problematische Dinge reproduziert.

© Minitta Photography

Dem Duo gelingt ein guter Draht zu jungen Leuten: Illustratorin Hannah Rödel und Autorin Laura Melina Berling


Was zum Beispiel?

Dieses „Mädchen müssen sich in Jungs verknallen“ – das wurde sehr befeuert und das hat mich total unter Druck gesetzt. Es kamen auch immer nur weiße, schlanke Menschen vor und auch kaum etwas darüber, dass Sexualität unterschiedlich sein kann.

Stichwort Liebe. Was können wir den Kids mitgeben?

Das klingt jetzt nicht so schön, aber was Liebe angeht: weg von Idealen, hin zu mehr Realität. Kinder sollen mitkriegen, dass Beziehungen nicht immer funktionieren, dass sich Menschen eben trennen. Dass es die eine perfekte Person gibt, die einen glücklich macht, ist nicht real. Sie sollen vielmehr lernen, dass Liebe eine Entscheidung ist und auch Auseinandersetzung und Arbeit bedeutet.
Man darf Nein sagen, man darf eine gute Beziehung haben wollen, man muss aber nicht unbedingt eine Beziehung haben. Es ist so wichtig, diese extrem romantischen Bilder zu hinterfragen: Verknallen ist schön, aber wo hört es auf? Ist es schlimm, wenn es vorbei ist, wird man da abgelehnt – oder hat es einfach nicht funktioniert? Ich habe kürzlich eine schöne Methode erlebt: Es haben sich zwei Menschen getrennt und sie haben ihren Kindern ein Riesenplakat gemalt, wie sie sich kennengelernt haben, wie ihre Liebe war, wie es war, als sie die Kinder bekommen haben, und warum sie sich jetzt trennen und wie es jetzt weitergehen soll. Man kann Kinder auf eine pädagogische Weise begleiten, ihnen ein realistisches Bild geben, dass Liebe auch enden kann, ohne dass man sich zerfetzen muss, und trotzdem miteinander gut umgehen kann.
Die wichtigste Botschaft: Liebe kann schön sein, aber es ist nicht immer das Nonplusultra.

Herzensbuchtipps: Laura Melina Berling, Hannah Rödel: „Selma, Küsse, Kuddelmuddel“ und „Yunus, Zocken, Zeugs“, beide leykam Verlag

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