Bühnenszene mit zwei Darstellenden: links ein älterer Mann im langen Mantel, rechts eine jüngere Frau in Jeans und Pullover. Zwischen ihnen liegt ein großer Holzreifen auf dem Boden.

Synagoge Kobersdorf: Nach Premiere rollt der Reifen weiter

Eine herausragende Produktion tourt durch das Land, wir waren in der Synagoge Kobersdorf dabei.

7 Min.

© viewitlikejenni

Wo der kleine Fredele wieder lacht, der jugendliche Alfred tanzt und Israel A. Glück daran erinnert, was sich nie mehr wiederholen soll: Eine herausragende Produktion tourt durch das Land, wir waren in der Synagoge Kobersdorf dabei.

Sie kennen es vielleicht aus Erzählungen, von historischen Fotos oder einem Museumsfest: das Geschicklichkeitsspiel, bei dem Kinder mit einem Stock einen hölzernen Reifen rollen. Er muss gleichzeitig in Balance und in Bewegung bleiben, man muss also im selben Tempo nebenherlaufen – das verlangt volle Konzentration. Es ist eine schöne Metapher fürs Kindsein, kaum einem Erwachsenen gelingt es, so intensiv im Moment zu sein.

Israel Alfred Glück verlor seine Familie, er selbst überlebte das KZ Aus­­chwitz und lebte später in Israel; 1995 besuchte er Lackenbach, das Dorf seiner Kindheit – und hinterließ später der Nachwelt ein Buch, in dem er seine Gedanken und Erinnerungen aufschrieb.

Die Wiederentdeckung seiner Kindheit

Als Heinz Janisch sich in das Leben von Israel Alfred Glück vertieft, entdeckt er eine Zeichnung, die ihn als Jungen zeigt, wie er einen Reifen durch Lackenbach rollt. „Das Bild hat mich nicht mehr losgelassen“, sagt der preisgekrönte Autor und feinfühlige Ö1-Menschenbilder-Redakteur. „Der hölzerne Reifen“ wird zum Titel, zum roten Faden und zur Botschaft seines Theaterstücks, „das von der Wiederbegegnung Israel Alfred Glücks mit seiner alten Heimat und von der Wiederentdeckung seiner Kindheit erzählt“, sagt Regisseurin Valentina Himmelbauer.

Im September feierte die Theater­initiative Burgenland (thib) die Uraufführung in der Synagoge Kobersdorf. Wir waren dabei – und trafen vorab ein Team an Protagonist*innen mit viel Herz vor und hinter der Bühne.
Der Reifen rollt weiter: Nach Aufführungen im September im Offenen Haus Oberwart gastiert das Ensemble im Oktober in Eisenstadt, Lackenbach und Güssing sowie im Dezember in Wien.

Geschichte kann man nur über Geschichten spürbar machen.

Heinz Janisch, Autor

Noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts gab es Gemeinden im Burgenland, in denen die Hälfte der Bevölkerung oder sogar mehr jüdisch war. Nach der Nazizeit waren all die Menschen, die unsere Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft, Politik und Alltag prägten, weg. Vertrieben, deportiert, getötet. Selbst was sie schufen, Geschäfte, Gebäude, Kunst, wurde zerstört. In Lackenbach wurde die Synagoge gesprengt.

Nun sitzen wir an einem Septembertag 2025 in der frisch renovierten Synagoge in Kobersdorf und noch ehe das Stück beginnt, wandern die Köpfe und Augen des Publikums neugierig umher, viel zu selten ist ein solcher Anblick.

Annähern durch Zuhören

Wenige Augenblicke später steht ein älterer Herr im Anzug im sanften Rampenlicht auf der Bühne und kostet vorsichtig ein Eis. Dort, wo einst die Lederwarenhandlung von Israel Alfred Glücks Großeltern war, betreibt nun Maria ein Café. „Sogar am Strand ist es mir kalt“, sagt der Mann. „Haselnusseis war das Lieblingseis meiner Kindheit. Ich habe gehofft, dass mich die Erinnerung wärmt.“
Das gelingt nicht mit dem Eis, aber sehr wohl, als sich die zunächst irritierte Kaffeehausbesitzerin auf den unerwarteten Gast und seine Geschichte einlässt.

Sie hört ihm zu, stellt ihm die Fragen, die auch dem Publikum auf der Seele brennen.
Ihr Dialog und ihr Annähern anei­nander wird in ein Kaleidoskop an Erinnerungen von prägenden Menschen und Szenen seines Lebens gebettet: Er wird wieder zum kleinen Bub, als ihm der Großvater fest in die Backe zwickt, zum jungen Mann, als er mit der schönen Mitzi tanzt – und zum Opfer, als ihn ein SS-Offizier zu Boden wirft und tritt. Die anderen Kinder waren oft barfuß, Fredi, der das Stadtleben in Wien gewohnt war und nur die Ferien in Lackenbach verbrachte, spielte mit Schuhen Fußball. „Du Saujud, jetzt hab’ ich die Schuhe an – und was für welche!“, brüllt der SS-Mann in die angespannte Stille in der Synagoge.

Von herzzerreißend bis herzerwärmend

Dabei bleibt es nicht. Weder davor noch danach. Heinz Janischs Stück, das herausragende Ensemble und die Inszenierung von Valentina Himmelbauer und Peter Wagner verschmelzen zu einem Abend, der genauso viele herzerwärmende wie herzzerreißende Momente bietet. „Der hölzerne Reifen“ bleibt über den ganzen Abend in Bewegung.

Sozusagen zum metaphorischen Protagonisten, der den Reifen die ganze Zeit über rollt, wird die Musik, die Ferry Janoska arrangiert und teilweise eigens komponierte: Sie verbindet Szenen, sie schärft Erinnerungen, sie unterhält köstlich, wenn beispielsweise das jiddische Lied „Zen Brider“ dargebracht wird und sie berührt, wenn Fredele einem Wiegenlied lauscht (die jiddischen Originalnoten stammen aus Mattersdorf, 1925) oder mit seiner Mitzi zu Fred Astaire tanzt. Multi-­Instrumentalist Ferry Janoska sitzt selbst auf der Bühne am Klavier und spielt das Bandoneon, das großartige Musiktrio ist mit Sängerin Hannah Tamar Schilhan und Violinistin Pia Onuska komplett.

Keine Pause und trotzdem ist das Stück nach einem gefühlten Wimpernschlag vorbei – mehrmals muss das Ensemble auf die Bühne zurückkehren, das Publikum kann nicht aufhören zu applaudieren.

Zyklus

Die Theaterinitiative Burgenland (thib) versteht sich auch als Landestheater der Autor:innen und zeigt mit „Der hölzerne Reifen“ aus der Feder des Südburgenländers Heinz Janisch die bereits vierte Produktion eines Zyklus, der die Volksgruppen in den Mittelpunkt rückt. In „Ich widme meine Erinnerungen den Menschen dieser Welt“ ging es um die burgenlandkroatischen Widerstandskämpferinnen Käthe Sasso und Hannah Sturm, ein Stück Geschichte der Roma behandelte „Die Retter“ und von Burgenland-Ungar:innen erzählte „Károlys Forschungen“.

Die jüdische Volksgruppe

„Wir dürfen uns glücklich schätzen, dass Heinz Janisch diesen Auftrag angenommen und die Grundlage für eine Inszenierung geliefert hat, die uns nicht nur die Lebenswelt der einst im Burgenland beheimateten Juden näherbringt, sondern allen auch als Warnung vor den Entwicklungen hin zu totalitären Machtstrukturen dienen kann“, betont Peter Wagner, Intendant der Theaterinitiative Burgenland.

Grundlage für den Stücktext waren Israel Alfred Glücks Aufzeichnungen, die wenige Jahre vor seinem Tod 2003 veröffentlicht worden waren. „Es erfüllt mich mit großem Respekt, dass jemand zurückkommt und sagt: ‚Ich schaue mir das noch einmal an, auch wenn es wehtut.‘ Die Arbeit an diesem Theaterstück hat mich sehr berührt“, beschreibt Heinz Janisch. „Ich glaube, dass man Geschichte nur über Geschichten spürbar machen kann. Ich habe 40 Jahre lang für die Ö1-Porträtreihe ‚Menschenbilder‘ gearbeitet und selber sehr viel bei diesen Begegnungen gelernt. Wo ein Schicksal nicht mehr nur eine Zahl oder ein Name ist, sondern ein Gesicht kriegt, wo ich den kleinen Fredele auf der Bühne sehe, wie er mit dem Reifen spielt, und den alten Mann in der Eisdiele, verstehe ich auch, was passiert ist – und was nicht mehr passieren soll.“

Unterschiedlichkeiten feiern

Eine wichtige Motivation ist für ihn auch, gerade jungen Menschen Geschichte nahezubringen. „Meine Tochter ist 16 Jahre alt, ich möchte, dass sie weiß, was in diesem Land in den letzten 100 Jahren passiert ist.“
„Wir saßen in einer Probenpause zusammen und stellten fest, dass einige von uns mehrsprachig aufgewachsen sind“, erzählt Schauspielerin Myriam Angela. „Für mich erinnert das Stück nicht nur an die Geschichte und daran, dass sie sich so nie mehr wiederholen soll, sondern auch daran, dass wir unsere Unterschiedlichkeiten, Andersartig­keiten und das Herausfinden von Gemeinsam­keiten miteinander feiern sollen.“

Heinz Janisch sprach bereits im Interview im Vorfeld das aus, was die meisten im Publikum nach der Aufführung fühlten und dachten: „Nach dem Stück geht es mir so, dass ich diesem Alfred gerne die Hand schütteln und ihn umarmen möchte, weil er mir so ans Herz geht.“

Der hölzerne Reifen

Tosender Applaus für Raimund Brandner, Myriam Angela, Ferry Janoska (Klavier), Hannah Tamar Schilhan (Gesang), Pia Onuska (Violine), Christoph-Lukas Hagenauer.

Termine:

16. Oktober: Kultur Zentrum Eisenstadt
24. Oktober: Gemeindesaal Lackenbach
30. Oktober: Stadtsaal Güssing
5., 6., 7. Dezember: Off-Theater Wien

jeweils 19.30 Uhr

www.thib.at

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