Juma Xipaia © Eve Lynam

Der Kampf um Sichtbarkeit

Im Alter von 24 Jahren wurde Juma Xipaia als erste Frau Anführerin des Volkes der Xipaya im brasilianischen Amazonas. Wir sprachen mit ihr über Aufbegehren, Morddrohungen, Gleichberechtigung und die westlichen Einflüsse auf indigene Völker.

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Juma Xipaia © Eve Lynam

Die heute 31-Jährige verbrachte eine glückliche, wenn auch kämpferische Kindheit im brasilianischen Amazonas, bis 2011 mit dem Bau des Megastaudamms Belo Monte begonnen wurde. Als sie 2017 ein Korruptionssystem im Zusammenhang mit dem Bau des Staudamms entdeckte und anprangerte, wurde sie Opfer von Anschlägen und erhielt unzählige Morddrohungen. Juma Xipaia musste daraufhin mit ihrer Tochter aus Brasilien fliehen, verbrachte ein Jahr in der Schweiz und war die erste Vertreterin des indigenen Volkes der Xipaya, die vor den Vereinten Nationen sprach. Zurück in Brasilien gründete sie das Instituto Juma, mit dem sie sich für den Schutz des Regenwalds, die Autonomie der indigenen Völker, die Gleichstellung der Geschlechter und gegen Korruption einsetzt. Beim Versuch, den Bau des Staudamms zu stoppen, scheiterte Juma. Sie musste zusehen, wie sich ihr Heimatdorf (Tucama) stark veränderte. Ihre Holzhäuser wurden durch Zement ersetzt und täglich kamen neue Dinge wie Kühlschränke und verarbeitete Lebensmittel in ihr Leben. Juma ist davon überzeugt, dass ihre Kultur dadurch absichtlich zerstört wurde. 

Die westliche Welt verübte immer wieder Eingriffe in den Lebensraum Ihres Volkes, stellte Ihr Leben auf den Kopf. Wie sind Ihre Erinnerungen daran?

Juma Xipaia: Stellen Sie sich vor, Leute kommen zu Ihnen und sagen Ihnen, dass Sie nicht existieren und schon längst ausgestorben seien. Aber Sie leben noch, mit Ihrer Kultur, mit Ihrer Tradition, mit Kindern. Und Sie hören das von den offiziellen Gremien, vor allem von FUNAI (Fundação Nacional do Índio = National Indian Foundation), die die indigenen Völker schützen und betreuen sollten. Es war ein sehr intensiver Kampf, den ich von der Zeit im Mutterleib an verfolgte. Ich wuchs als Kind im Xipaya-Gebiet auf, das bis dahin nicht abgegrenzt und nicht als indigenes Land anerkannt wurde. Aber wir verteidigten unser Gebiet, weil wir die Geschichten unserer Vorfahren kannten und wussten, dass dieses Land uns gehörte. Es war also eine Kindheit, in der ich den Kampf der Älteren, der Großeltern, der Onkel und Tanten und meiner Eltern um den Schutz des Territoriums und die Abgrenzung miterlebte. Außerdem kämpften wir auch gegen Berg-leute und Holzfäller, die in das Gebiet eindringen wollten. Ich erinnere mich an viele Phasen und Momente in meiner Kindheit, als ich die Ältesten begleitete. Wir hatten kein anderes Transportmittel als ein Kanu, sind damit stundenlang gepaddelt, um dann auf Eindringlinge zu treffen und sie aus unserem Gebiet zu vertreiben. 

Juma Xipaia © Eve Lynam
Juma Xipaia © Eve Lynam

Aber es gab auch die andere Seite, in der ich mir vorstellte, dass der Wald unendlich ist und dass dies meine Welt, meine einzige Wahrheit ist. Ich kannte dieses Stadtsystem nicht, die Welt des weißen Mannes, in der alles gekauft wird, in der alles Geld ist. Dort im Wald, im Dorf, zusammen mit meinem Volk, stammte unsere gesamte Existenz, unsere Nahrungsquelle und unser Überleben aus dem Wald. 

Was hat den Alltag in Ihrer Kindheit geprägt?

Unsere Häuser wurden mit Rohstoffen aus dem Wald gebaut. Unsere Erziehung basierte auf dem Wissen um das Überleben und vor allem auf Respekt – vor den Tieren, vor dem Wald, vor dem Fluss. Und wir haben uns immer an der Gemeinschaftsarbeit beteiligt, wir hatten ein Feld, das allen gehörte, wir haben Weizen angebaut, Maniok, Reis und Bohnen. Alles, was wir brauchten, hatten wir dort. Wir haben die Samen von einem Jahr zum nächsten aufbewahrt. Es war eine glückliche Kindheit, eine Kindheit, in der ich viel spielte, in der ich viel lernen konnte und in der ich mich vor allem glücklich und frei fühlte.

Wie kam es dazu, dass Sie der erste weibliche Häuptling Ihres Stammes wurden?

Das Xipaya-Gebiet umfasst fünf Dörfer. Als ich 2016 als erste Frau Cacica (Chief, Häuptling) wurde, war ich erst 24 Jahre alt. Bis dahin waren es immer Männer, die viel älter waren. Der Grund, dass ich gewählt wurde, war in erster Linie, weil ich gute Kontakte zur indigenen und nicht-indigenen Welt hatte. Vor allem weil ich damals Jura in der Stadt studiert habe für zweieinhalb Jahre. Ich verfolgte den Kampf in den sozialen Bewegungen, seit ich 13 Jahre alt war – vor allem alles rund um den Bau des Belo-Monte-Staudamms. Es wurde damals viel über Unternehmensverträge und technische Details gesprochen. Die Menschen in den Gemeinden verstanden das nicht. Sie waren es leid, getäuscht zu werden. Mein Wissen war ausschlaggebend für die Entscheidung, Cacica zu werden. Der gesamte Prozess rund um den Bau des Staudamms wurde leider nicht zusammen mit der indigenen Bevölkerung gedacht und umgesetzt. Meine Entscheidung, diese Position anzunehmen, war beeinflusst von meinen Gedanken an die Zukunft. Ich wollte unsere Gemeinschaft stärken und Strukturen für sie schaffen, mein Volk verteidigen, schützen und versorgen.

© beigestellt
Filmproduzent Walter Köhler (Terra Mater Studios), Petra Gnad (Jackson Wild Austria), Juma Xipaia, Klaus Hofmann (St. Martins Therme & Lodge) © beigestellt

Als Sie Ihre Heimat verlassen und die Welt außerhalb des Stammes entdeckt haben, was waren Ihre Erlebnisse und Gedanken?

Als Kind hatte ich keine Ahnung, wie teuer das Leben draußen ist. Wir mussten in unseren Gemeinden keine Miete zahlen, keinen Fisch und kein Fleisch kaufen. Unsere Gemeinschaft basierte auf Tauschhandel, es gab kein Geld. Niemand musste hungern, niemand war völlig mittellos. Als ich dann in die Stadt kam, sah ich Menschen, die auf der Straße lebten, die es sich nicht leisten konnten, sich zu ernähren oder die Miete zu bezahlen. Und ich fragte mich immer wieder: Warum? Das ist eine der größten Herausforderungen für uns indigene Völker, uns anzupassen und mit diesem nicht-indigenen Lebensstil Schritt zu halten, insbesondere mit dem Kapitalismus. So leiden wir am Ende viel mehr darunter, dass wir dieses System nicht verstehen und Schwierigkeiten haben, uns in diesem sehr ungerechten System durchzusetzen, respektiert und akzeptiert zu werden und zu überleben. Unser Wissen wird auch heute noch unterschätzt, wir erhalten in dieser Hinsicht nicht viel Unterstützung, denn das westliche Wissen hat Vorrang, und wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir Portugiesisch lernen, die Sprache des weißen Mannes, das Wissen des weißen Mannes, und selbst wenn man das getan hat, leidet man unter Vorurteilen, sogar innerhalb der eigenen Gemeinschaft.

Worin sehen Sie heute Ihre Aufgabe als Chief?

Heute besteht die Herausforderung darin, dass man als Chief nicht nur in eine Stadt wie Altamira gehen muss, sondern dass man in Brasilia sein muss, um an der nationalen Bewegung teilzunehmen, zusammen mit anderen Völkern, um gegen die Gesetze zu kämpfen. Das gilt auch für die derzeitige Regierung, die viele der von den indigenen Völkern bereits errungenen Rechte wieder rückgängig gemacht hat. Man muss in andere Länder gehen, wie Österreich, die Vereinigten Staaten, Italien, an großen Konferenzen wie der COP (= UN-Klimakonferenz) teilnehmen und vor der Welt sprechen. Denn es sind nicht nur die brasilianische Regierung oder Gesetzesentwürfe, die sich auf das Leben der Menschen und den Wald auswirken, sondern auch andere Länder, die die Zerstörung des Waldes finanzieren, durch Gold, Holz, Menschenhandel mit Kindern. Es gibt unzählige Auswirkungen, die von anderen Ländern verursacht werden, und deshalb ist es wichtig, dass wir mit der Welt sprechen. Ich kann mein ganzes Leben lang Cacica sein, aber auch früher gehen – ebenso kann der Stamm entscheiden. Es ist eine Position, die nicht vergütet wird, wir bekommen kein Gehalt dafür, alles basiert auf freiwilliger Arbeit und die Anforderungen sind sehr hoch.

© www.malerisch-untalentiert.at
Beim Jackson Wild Summit in der St. Martins Therme & Lodge sprach Juma vor internationalem Publikum über ihren Kampf für die Unabhängigkeit indigener Völker © www.malerisch-untalentiert.at

Wie haben Sie die Zeit erlebt, als Sie wegen Ihrer Aufklärungsarbeit im Zusammenhang mit dem Bau des Belo-Monte-Staudamms Opfer von Angriffen wurden und Morddrohungen erhielten?

Ein Chief, der sein Territorium verlässt, der sich an Brasilien und an die Welt wendet und Missstände anprangert, ist vielen Gefahren ausgesetzt, nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Territorium. Und bei mir war es nicht anders – Drohungen und Mordversuche habe ich erlebt und erlebe ich heute noch. Beim Bau des Staudamms gab es so viel Korruption und Geldwäsche, das habe ich angeprangert und tue es heute noch. Doch nicht mehr so direkt, denn die Drohungen haben viel Schaden bei mir angerichtet. Ich musste Brasilien oft verlassen und war oft weit weg von meinen Kindern. Ich wurde auch als Frau ins Visier genommen. Frauen leiden viel stärker unter dieser Art von Gewalt als Männer.

Wie empfinden Sie die europäische Lebensweise im Vergleich zu der Ihres Volkes? Was sind die größten Unterschiede und gibt es auch Gemeinsamkeiten?

Wenn ich nach Europa oder in ein außereuropäisches Land reise, spüre ich den Schmerz, ich spüre die Anwesenheit der Vorfahren dort und ich frage mich, woher das Gold an dieser Wand, auf diesem Bild stammt. Woher kommt dieser Reichtum, wie viele Völker und ethnische Gruppen wurden ausgelöscht, wie viele Menschen wurden versklavt, damit es Länder geben konnte, die so weit entwickelt sind wie diese? Ich versuche also, alle Informationen aus der Vergangenheit zu verarbeiten und zu verstehen, dass dies ein neuer Moment ist und dass es wichtig ist, dort zu sein, in diesen Ländern zu sein, auch um die Schwierigkeiten zu zeigen, die wir bis heute durchmachen – angesichts dieses kolonialistischen Systems, das in der Vergangenheit existierte und leider immer noch präsent ist.

Frauen kämpfen auf der ganzen Welt seit Jahrzehnten für die Gleichberechtigung und trotzdem sind wir noch weit von dieser Parität entfernt. Wie sind Ihre Erfahrungen dazu?

Die Entscheidungen, an die ich mich erinnere, wurden nur von Männern getroffen. Unser Haus war ein Ort für Partys, Versammlungen und Wissen. Es wurde das „Haus des Kriegers“ genannt. Frauen und Kinder durften nicht an Versammlungen und Entscheidungen teilnehmen. Alles, was ich heute bin, habe ich meiner Mutter, meinen Tanten und meiner Großmutter zu verdanken, die sehr mutige, starke und entschlossene Frauen sind und die diesen Machismus zerstört haben. Natürlich gab es viele Konflikte, auch mit meinen eigenen Onkeln. Langfristig gab es jedoch Ergebnisse. All dieser Mut, all der Kampf und die Entschlossenheit, die ich habe, sind also darauf zurückzuführen, dass sie meine Vorbilder, meine Inspiration und vor allem mein Mut waren und sind. So leben wir bis heute in einem Gemeinschaftssystem, obwohl es viele Veränderungen in der Arbeitsweise gab. Dass nicht mehr alles kollektiv ist, ist einer der Einflüsse von außen, vor allem nach dem Bau von Belo Monte, aber heute haben wir die größte Beteiligung von Frauen, heute nehmen Kinder und Frauen an den Sitzungen teil.

Mehr Infos zu Juma und ihrer Arbeit: 

www.institutojuma.org

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