Gery Seidl: Wach bleiben mit Humor
Er denkt laut, lacht ehrlich und schaut genau hin: Kabarettist und Schauspieler Gery Seidl im Interview.
© Vanessa Hartmann
Der Saal im Congress Center Baden ist noch leer, als Kabarettist Gery Seidl und Chefredakteurin Nicole Schlaffer die Bühne betreten. Das Gespräch ist angeregt, die Themen ernst – und kippen dann doch wieder ins Komische. Zwei Stunden lang philosophieren sie über Gott und die Welt, diskutieren Begrifflichkeiten, Kuriositäten und das Leben. Und beschließen, dass sie nie aufhören wollen, wach zu bleiben. Was hier nun folgt, ist ein Gedankenabenteuer über das Funktionieren, das Zweifeln und das Wachsen:
BURGENLÄNDERIN: Gery, wie bist du vom Bauleiter zum Kabarettisten geworden?
Gery Seidl: Indem ich gefühlt acht Minuten nach Erhalt meines HTL-Maturazeugnisses beim Herwig Seeböck angeklopft und gefragt habe, ob er mich unterrichtet. Ich wollte schon immer Kabarett machen. Düringer, Dorfer, „Schlabarett“ – das hat mir getaugt. Aber es hat dann schon noch einige Jahre gedauert. Ich hab als Bauleiter gearbeitet und bin nebenei meiner Leidenschaft auf der Bühne nachgegangen.
Ich wollte lange dem Kabarett nicht umhängen, mich ernähren zu müssen, weil das unfair ist. Du suchst dir was aus, das dein Herz beflügelt, und das soll dich dann finanzieren? Doch irgendwann kam der Moment, wo ich gemerkt habe, es ist effizienter, wenn ich den kompletten Fokus aufs Spielen lege. Und es hat funktioniert.
Gibt es Momente, die dich besonders geprägt haben?
Meine Schulzeit war die Hölle. Ich hab nicht ins System gepasst. Ich pass grundsätzlich nirgendwo rein, wo andere schon waren. Aber nicht, weil ich besser oder schlechter bin, sondern weil es mich nicht interessiert. Ich hinterfrage das Schulsystem sehr kritisch, weiß aber, dass sogar die Bildungsdirektor*innen selbst einer Ohnmacht verfallen sind, aus der heraus sie nichts ändern können. So viele Leute wissen, wie es nicht funktioniert. Niemand hat den Schneid, einen neuen Weg zu probieren.
Alle warten nur darauf, dass andere scheitern, damit sie sagen können: „Haben wir ja eh gewusst, dass das net geht.“ Solange wir lieber zuschauen, wie uns die Felle davonschwimmen, und nichts Neues machen, verlieren wir jeden Tag tausende Kinder an dieses Bildungssystem. Eltern geben Millionen für Nachhilfe aus, aber niemand fragt, warum das nötig ist. Wir haben in Corona-Zeiten Milliarden fürs Testen ausgegeben, aber für Bildung anscheinend nie Geld. Dabei könnte Schule der schönste Raum sein, den wir unseren Kindern schenken können. Ich sag immer, Förster sollten in die Politik gehen, weil die müssen in Generationen denken.
Roland Düringer hat einmal gesagt: Ein Hamsterrad schaut von innen aus wie eine Karriereleiter. Hast du das Gefühl, dass du in einem Hamsterrad bist?
Jeder von uns ist irgendwie in einem Radl. Wir zahlen Steuern, Miete, Abgaben … außer du fährst mit einem VW-Bus um die Welt und hast ein Postkastl in Sarajevo, dann gibt’s dich praktisch nicht (lacht). Ich mach’s so, dass ich versuche, das zu beeinflussen, was ich beeinflussen kann, und mich mit Menschen umgebe, die ich mag. Und ich schau mir immer an, woher kommt eine Idee und wem dient sie.




Dein Filmprojekt „Aufputzt is’“ startet am 20. November – als ich den Film vorab anschauen durfte, bin ich über lauter Überraschungen gestolpert. Sehr unterhaltsam und Spitzen-Cast!
Es wurde Zeit – der letzte österreichische Weihnachtsfilm ist schon ca. 25 Jahre her! Und alle Wunschkandidat*innen sind dabei (Anm.: Marlene Morreis, Thomas Mraz, Adele Neuhauser, Christopher Seiler, Roland Düringer, Lisa Eckhart, Heinz Marecek, Fifi Pissecker, Erika Mottl, Michi Buchinger) und meine Filmfrau Marlene Morreis und ihr Filmvater Johannes Silberschneider haben Gänsehaut-Momente erzeugt. Es war ein Wahnsinn.
Jede Figur ist liebenswert und jede Figur scheitert eigentlich, gewinnt aber dabei, weil sie mit so viel Herz bei der Sache ist. Und ich werde nie vergessen, als wir alle in der Saukälte um 6 Uhr Früh Schinken-Käse-Toasts gegessen haben (lacht). Und ganz besonders freu ich mich auch über das Lied, das Christopher Seiler und ich jetzt rausgebracht haben, mit Musik von Christian Kolonovits: „Klingelingeling“ – ein Weihnachts-Ohrwurm par excellence!
Deine Rolle war auch die des Familienvaters, der gefühlt nie Zeit hat, obwohl er bemüht ist. Wie siehst du dich als Vater privat?
Es gibt Menschen, die behaupten, dass ich zu wenig Grenzen setze in der Erziehung. Ich glaube, Erziehung funktioniert nicht. Kinder sind Kopiermaschinen und kopieren diejenigen, denen sie sich emotional verbunden fühlen. Ich habe das große Privileg, Papa einer Tochter zu sein, die es zulässt, dass ich ihr beim Leben zuschauen darf. Ich versuche, ihr Werte mitzugeben, die – wie ich glaube – gut sind.
Kabarettist*innen wirken auf der Bühne ja immer sehr outgoing, laut und natürlich witzig. Bist du das alles auch privat?
Ich bin zwar laut, aber ich werd’ immer leiser. Ich hab einen Raum für mich geschaffen, wo ich Menschen treffe, mit denen ich philosophieren kann. Wenn ich aber sehe, dass Leute unter die Räder kommen, dann werde ich laut. Ich mache kein politisches Kabarett, aber manche Sachen kann ich mir dann auch nicht verkneifen, wie zum Beispiel, dass sich ein Finanzminister um neun Milliarden Euro verrechnet und dass das einfach so is. Zwei Generationen verheizt, hoppala. Natürlich bin ich heute anders als vor 20 Jahren, bin nicht mehr der Letzte, der aus dem Bierzelt rausgeht. Früher haben wir Partys gefeiert, da hat keiner gefilmt, gepostet und geliked. Du hattest am nächsten Tag Kopfweh, dann war’s vorbei und du hast neu angefangen.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Dass wir erwachen. Das hat nix mit den Zeugen Jehovas zu tun. Sondern im Sinne davon, dass wir schauen, ob alles stimmt, was uns als gut verkauft wird. Jeder soll seinen Wertekompass vor Augen haben. Schreib deinen eigenen Nachruf und schreib alles rein, was du dir wünschen würdest, das man über dich sagt. Und dann schau, wie weit du davon weg bist.
Bist du weit weg?
Ich versuche, mich Tag für Tag dem anzunähern. Ich bleibe wach. Wenn ich wissen will, wie es dem Gesundheitssystem geht, dann frage ich eine Stationsschwester oder einen Krankenpfleger. Wenn ich wissen will, wie es um die Migrationssituation steht, frage ich einen Flüchtlingsbeauftragten oder eine Polizistin. Man sollte nicht immer alles glauben, was irgendwo steht oder im Internet kursiert.
Ich wünsche mir eine lässige Gesellschaft, dass jeder Mensch machen und glauben kann, was er möchte, solange andere dabei nicht zu Schaden kommen. Toleranz, ohne zu werten, ist die größte Kunst.

Ich schau mir immer an, woher kommt eine Idee und wem dient sie.
Gery Seidl
Gery Seidl‘s Tourdaten
„Aufputzt is’“ – seit 20.11. im Kino
„Aufputzt is’“ – auf der Bühne, Nähe Burgenland:
06. + 07.12.: Wien, Globe
08.12.: Wien, Stadtsaal
15.12.: Wien, CasaNova
18.12.: Oberwart, Messe
19.12.: Oberwaltersdorf, Bettfedernfabrik
„Eine Runde Seidl“ – auf der Bühne, Nähe Burgenland:
31.12.: Wien, Konzerthaus
20. + 21.01.: Eisenstadt, KUZ
„beziehungsWEISE“ – auf der Bühne, Nähe Burgenland:
09.01.: Wien, CasaNova
12.01.: Wien, Orpheum
13.01.: Wien, Kulisse
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