Keine Marionette mehr

Sich neu zu erfinden – „the story of her life“ könnte man sagen. Lisa Malits wandelte sich von der Industriekauffrau zur diplomierten Pflegekraft und davon zur Shiatsu-Praktikerin. Zudem wurde sie mit 16 gehörlos. Das tiefgehende Porträt einer mutigen jungen Frau.

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Lisa Maltis © Christina Draxler

Irgendwann stand sie am Gang im Krankenhaus auf einer Abteilung, auf der sie nie arbeiten wollte, und war völlig außer sich. Der Patient, der nicht im Bett bleiben wollte, die Angehörigen, die sie mit Fragen löcherten, die Belegschaft, die um sie herumwuselte, das Ärzte-Team, das sie ignorierte. „In diesem Moment ist die jahrelange Überlastung aus mir herausgebrochen, ich war am Limit. Ich hab’ mitten am Gang angefangen zu schreien. Dann dachte ich mir: So, Lisa, jetzt bist du genau die Pflegeperson geworden, die du nie sein wolltest.“ Am nächsten Tag reichte sie ihre Kündigung ein. Bis es so weit kam, ist viel passiert. Lisa Malits wuchs im mittleren Burgenland auf und ging nach der Pflichtschule in die Lehre als Industriekauffrau in Wien. Mit Anfang 20 wollte sie sich beruflich verändern, „einen sinnstiftenden Beruf“ strebte sie an. Daraufhin absolvierte sie die psychiatrische Krankenpflegeschule am Otto Wagner Spital in Wien mit Schwerpunkt Psychiatrie, Neurologie. Ihre Praktika führten Lisa unter anderem in die Akutpsychiatrie, wo Patientinnen fixiert, sediert und zwangsinjiziert wurden. Nach ihrem Diplom arbeitete sie jahrelang in verschiedenen Einrichtungen und Abteilungen, doch von den psychiatrischen Stationen hatte sie genug. „Die Patientinnen waren immer wieder dieselben. Wenn ein Alkoholiker dir zum 15. Mal erklärt, dass er jetzt aufhört, und am nächsten Tag wieder mit 4 Promille eingeliefert wird, nimmt dich das auch mit. Es ist zehrend, Menschen mit Erkrankungen immer wieder zu begegnen, sie zu unterstützen und sie daraufhin wieder in ihrer schlimmsten Verfassung zu sehen. Deswegen waren viele Kolleginnen selbst psychisch auffällig und haben in ihrer Freizeit einiges konsumiert, um den Arbeitsalltag hinnehmen zu können. Zudem ist das Machtgefälle zwischen Patientinnen und Personal auf der Psychiatrie viel höher als auf anderen Stationen.“

Ausgenutzte Machtpositionen

Schon bald konsternierte sie, „dass das gesamte Pflegesystem komplett an die Wand gefahren ist“. Lisa probierte mehrere Stationen in der Hoffnung, es woanders besser vorzufinden, doch „das wurde es nie“. „Generell habe ich in allen Krankenhäusern und Stationen die Erfahrung gemacht, dass Machtpositionen sehr stark ausgenutzt werden. Ich bin aus tiefster intrinsischer Motivation in die Pflege gegangen, weil ich Menschen helfen wollte. Die Realität war dann die, dass ich mir zu viel Zeit für die Patientinnen nahm, so musste ich von Kolleginnen kompensiert werden. Jahrelang versuchte ich, in das System hineinzuwachsen, wurde schneller, routinierter. Doch tief drin hab ich gewusst: Das ist es für mich nicht. Die Patient*innen als Individuum hat niemand gesehen – ich war nur eine Marionette des Systems.“ Durch Corona spitzte sich die Situation vollends zu. Ein Kollege nach dem anderen fiel ins Burnout, die Stationen waren chronisch unterbesetzt. Nebenbei begann Lisa daher mit einer Ausbildung zur Shiatsu-Praktikerin. Nachdem sie an eingangs beschriebenem Tag gekündigt hatte, schloss sie bald darauf ihre Ausbildung ab und machte sich im November 2021 selbstständig. Von ihrem letzten Team, mit dem sie gearbeitet hatte – 17 Personen – seien heute nur noch drei im Pflegeberuf tätig. „Alle anderen haben sich beruflich verändert, sind zur Polizei, in die Pädagogik, in Pension gegangen oder schwanger geworden.“

Motivation siegt über Angst

In der Zeit nach ihrer Kündigung und vor ihrer Gewerbeanmeldung zur Shiatsu-Praktikerin konnte Lisa ihr kreatives Potenzial entfalten. „Es war so befreiend, meine Kraft und Motivation kamen wieder zurück. Es war ein Mix aus Euphorie und Tatendrang, aber auch Zukunftsängste. Ich hatte am Anfang gerade mal so viele Patientinnen, um meine Fixkosten decken zu können.“ Aber die Rückmeldungen ihrer Klientinnen nach den Shiatsu-­Einheiten ließen Lisa weitermachen und die Motivation über die Ängste siegen. „Wenn die Leute von der Matte aufstehen und sagen, wie gut es ihnen geht, oder wenn mich Tage später Nachrichten mit Dankesworten erreichen und eine Weiterentwicklung sichtbar ist, dann weiß ich, dass ich das Richtige getan habe.“ Ihre Menschenkenntnis in Kombination mit der Shiatsu-Ausbildung macht Lisa heute zu einem einfühlsamen Menschen. Der TCM-Ansatz unterstützt die Shiatsu-Behandlung und Lisa führt mit ihren Klient*innen zuerst stets ausführliche Anamnese-Gespräche. Dabei nimmt sie sich Zeit und konzentriert sich auf eine Person.

Als die Welt zum ersten Mal aus den Fugen gerät

Sich nur auf eine Person zu konzentrieren ist für Lisa deswegen angenehm, weil sie hörbehindert ist. Kurz vor ihrem 16. Lebensjahr sagte ihr der HNO-Arzt bei einer Routinekontrolle, dass sie Hörgeräte benötigt. „Für mich brach eine Welt zusammen. Ich war in der Pubertät, habe mich geschämt, wollte diese Dinger niemandem zeigen, habe sie unter den Haaren versteckt.“ Doch trotz der Geräte wurde das Hören schlechter und so entschied sie sich für Cochlea-Implantate. Dazu wird unter der Haut ein Chip implantiert, der mit dem Außengerät hinter dem Ohr magnetisch verbunden ist. Das Implantat nimmt den Schall auf, wandelt ihn in ein elektrisches Signal um und bringt die eingesetzte Elektrode in der Gehörschnecke zum Schwingen. Anfangs waren die Geräusche „metallisch, wie eine Computer- oder Micki-Maus-Stimme“. Es hat ein Jahr und viel Kraft gebraucht, bis Lisa vom Implantat profitierte, nach zwei Jahren ersetzte es annähernd perfekt ihr Gehör. Ohne das Gerät hört Lisa mittlerweile gar nichts, sie ist gehörlos. Doch sie kann perfekt Lippenlesen. Nachts, beim Duschen und wenn sie sich in ihrer Umgebung wohlfühlt, legt sie die Geräte ab, bei ihrem Freund zum Beispiel oder bei ihrer Familie.

Schmerzlich bewusst

In ihrem Job als Pflegekraft spielte die Hörbehinderung natürlich auch eine Rolle, da Signale von außen und das Verarbeiten von Stimmen und Geräuschen den ganzen Tag lang müde machen. Doch vorrangig ging es Lisa bei ihrer Veränderung da­rum, dass sie keine Freude mehr für ihren Beruf empfand. „Ich wollte nicht länger gegen meine Werte handeln. Du kannst dich entweder anpassen oder gegen deine Werte arbeiten, doch dann gehst du irgendwann zugrunde.“ Deshalb legt die 29-Jährige heute in ihren Shiatsu-Behandlungen den Fokus darauf, Menschen zum Nachdenken zu bringen, was ihnen Freude macht, ihre Augen zum Leuchten bringt. „Viel zu viele Leute überlegen sehr lange bei dieser Frage und es wird ihnen schmerzlich bewusst, dass sie gar nicht wissen, wofür sie brennen.“

www.freeyoursoul-shiatsu.at

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