„Queer ist nicht unnormal“

Von klein auf spürten sie, dass sie „anders“ sind. Irritiert hat das Leon und Aiden aber erst, als sie von außen bewertet wurden.

8 Min.

Leon und Aiden © Leon

Nicht alle Verwandten werden einverstanden sein, wenn dieser Artikel erscheint. „Ich mache das nicht, um zu provozieren. Im Gegenteil: Ich gebe das Interview in der Hoffnung, dass sie mich besser verstehen, dass sie mich so annehmen können, wie ich bin“, sagt Leon.

19 Jahre jung ist er und in Stegersbach zu Hause. Um den Termin zu vereinbaren, haben wir mehrmals telefoniert und Nachrichten geschrieben. Leon war ab der ersten Minute ein herzlicher, charismatischer junger Mann.
An seiner Seite sitzt Aiden: mehr als zwei Stunden lang ein kluger, reflektierter Gesprächspartner. Die beiden sind kein Paar, sie sind Freunde und auch Familie füreinander, sagen sie.

Aiden ist 20 und in Stinatz zu Hause. Er hat Menschen um sich, auf die er zählen kann, erzählt er, aber die Liste an Verletzungen, die er schon erfahren musste, ist lang.

Leon ist homosexuell, Aiden ist ein Transmann. „Aber wir sind mehr als unsere sexuelle Orientierung oder unsere Geschlechtsidentität“, betonen sie.

Wie war der Weg zu eurer Selbstfindung?

Aiden: Lang (lacht). Ich habe mehrere Outings hinter mir: Ich habe von klein auf gemerkt, dass ich anders bin. Ich bin als Frau geboren und hab’ zuerst gedacht, ich bin lesbisch. Heute stehe ich nicht mehr auf Frauen – und vor drei Jahren habe ich mich als Transmann geoutet.

Ich habe eine Tischlerlehre gemacht und mich als Lehrlingssprecher auch für mehr Offenheit eingesetzt. Ich kämpfe mein Leben lang gegen Homo- und Transphobie, bis heute kann ich mir einiges anhören. Manchmal gehe ich an Jugendlichen an der Straße vorbei und sie sagen laut: „Was ist das: ein Mann oder ein Weib?“ Je nach Tagesverfassung ist mir das egal oder ich brauche ein paar Tage, bis ich meine Ruhe damit finde. Auch in meinem nächsten Umfeld gibt es Menschen, die mir ständig sagen, dass ich für immer ein Mädchen bleibe. Ich bin einiges gewöhnt.

Leon: Seit ich denken kann, bin ich eher auf Jungs gestanden. Ich habe gewusst, dass „die Norm“ jeweils aufs andere Geschlecht steht, aber ich selbst habe es nicht unnormal gefunden, dass ich mich für das gleiche Geschlecht interessiere. Das war schon im Volksschulalter so.

Das begann mich erst zu beschäftigen, als ich „Schwuchtel“ und andere homophobe Begriffe gehört habe. Ich musste mich plötzlich fragen: Warum bin ich nicht wie die anderen? Ich habe dann eine Zeit lang auch stark versucht, „normal“ zu werden. Das führte aber eher zu einem Entwicklungsstopp: Ich wollte keine Emotionen mehr zeigen, nicht mehr reden und habe mich komplett zurückgezogen. Durch die Freundschaft mit Aiden konnte ich mich wieder öffnen.

Wie war euer Outing?

Leon (seufzt): Ich war ungefähr zwölf, da haben es schon viele gemerkt. Ich habe es offiziell gemacht, damit nicht ständig aus jeder Windrichtung die Frage kommt. Und dann musste ich mir anhören, dass das vielleicht nur eine Phase ist und sogar dass man damit zum Arzt gehen sollte.

Leon: „Ich bin nicht nur homosexuell.“
Leon: „Ich bin nicht nur homosexuell.“ © Leon

Aiden: Ein langjähriger guter Freund hat sich sehr schwer getan damit, als ich gesagt habe, dass ich ein Transmann bin. Ihm hat es besser gefallen, als ich davor lesbisch war – da hatten wir die gleichen sexuellen Interessen (lacht). Dafür war es ein so normales Gespräch mit meiner Mama, dass ich gar nicht mehr weiß, ob mein Bruder dabei war oder nicht. Ich hab’ gesagt: Ich bin trans, werde mir einen neuen Namen aussuchen und eine Hormontherapie machen. Ich gehe mit diesen Dingen offen um. Es ist für mich okay, wenn mich jemand fragt, ob ich trans bin. Was mich nervt, ist, wenn Leute erwarten, dass ich mich gleich so vorstelle. Transsein ist nicht meine komplette Identität.

Leon: Das erlebe ich oft, auch bei anderen: Menschen werden von der Gesellschaft sehr schnell auf eine Eigenschaft reduziert. Jemand wird wo eingeordnet, auch aufgrund von Vorurteilen, und die Sache ist quasi abgeschlossen. Die Leute wollen kaum noch etwas Neues über den Menschen erfahren.

Wohl ein Klischee: Habt ihr Sehnsucht nach der anonymen Großstadt?

Leon: Nicht wirklich.
Aiden: Um die Frage enthusiastisch zu beantworten: Ich sitze am liebsten daheim und habe meine Ruhe (lacht).

Also keine Pride Parade in Wien?

Aiden: Nein, viel zu anstrengend.

Aiden: „Ich bin nicht nur ein Transmann.“
Aiden: „Ich bin nicht nur ein Transmann.“ © Leon

Leon: Es war auch nicht okay, wie es letztes Jahr dort abgelaufen ist, dass die Leute nackig herumgerannt sind und ihre Fetische ausgelebt haben. Das ärgert mich, weil ich damit gleichgesetzt werde. Das war in der Klasse ein großes Thema und ich bin froh, dass ich eine Deutsch-Professorin habe, bei der wir dazu lesen und darüber diskutieren konnten. Es war mir wichtig, zu erklären, wofür es den Pride Month überhaupt gibt, dass früher Menschen ins KZ mussten, wenn sie homosexuell waren, dass sie sogar getötet wurden …

Aiden: … und bis heute Menschen verfolgt werden. Die Pride Parade ist dazu da, um Ausgrenzung und Verfolgung zu stoppen. Die Leute sollten sich gescheit anziehen, wenn sie auf die Straße gehen. Fetische kann man mit den Sexualpartner*innen privat ausleben, das gehört nicht in eine Bewegung, die öffentlich für Akzeptanz kämpft.

Was ärgert euch an der Gesellschaft?

Leon: Wenn Eltern das Leben ihres Kindes einschränken, indem sie sich dagegen verschließen, wie es sich verändert; sie haben eine feste Meinung, informieren sich nicht. Das ist in keiner Hinsicht gut, jeder Mensch lernt ein Leben lang. Eine Familie funktioniert auch nicht ab der Geburt perfekt, sie ist dafür da, dass man ständig über alles redet. Ich selbst wollte einmal unbedingt heterosexuell sein, weil es leichter gewesen wäre. Aber ich bin es nun mal nicht, ich wäre mein Leben lang unglücklich gewesen.

Aiden: Wenn ich ein Cis-Mann wäre, bräuchte ich keine Transition (u. a. medizinische Schritte, um sich körperlich der inneren Geschlechtsidentität anzunähern, Anm.) und hätte funktionierende Geschlechtsorgane. Aber es würde mich auch nicht glücklich machen, wenn ich als Mann geboren worden wäre, es würde mir genauso eine Geschlechterrolle aufgezwungen werden.

Ich habe einen langen Weg hinter mir, aber heute bin ich zu 80 Prozent zufrieden mit meinem Leben – ein guter Teil des Prozesses sitzt neben mir (lacht).

Homo- und Transsexualität waren gerade in der Pubertät eine Last, weil da sowieso alles so verwirrend ist und du dich erst finden musst. Ich wollte mich bewusst nicht mit der Transition stressen; ich wollte mir Zeit lassen und viel reflektieren. Darum finde ich es gar nicht so schlecht, dass einem das nicht so leicht gemacht wird, dass es zuvor beispielsweise ein psychologisches Attest braucht. Nur die Namensänderung könnte man erleichtern, das wäre ein progressiver Schritt.

Kritiker*innen meinen auch, dass es einen regelrechten Trans-Boom gibt und dass medizinische Schritte keineswegs erleichtert werden sollten …

Aiden: Alles, was in der Welt passiert, ist bis zu einem bestimmten Grad ein Modetrend. Noch mehr, seit es das Internet gibt. Man kommt schneller zu Informationen, findet schneller Safe Spaces für den Austausch, aber leider auch falsche Gruppen. Es gibt mehr Aufklärung, Filme und Serien, homosexuelle Personen sind mehr repräsentiert in den Medien. Den Boom gibt es nicht nur unter Jugendlichen, auch 50-Jährige kommen drauf, dass sie schwul, lesbisch, bi, trans etc. sind.

Eure Botschaft an die Gesellschaft?

Aiden: Es ist nicht schlecht, anders zu sein, der Begriff wird einfach falsch verwendet. Mich würde es nerven, wenn ich nicht anders wäre. Ich bin sowieso schon auf meine Art langweilig, aber ich will nicht langweiliger sein als andere (lacht).

Leon: Ich habe versucht, angepasst zu leben, es hat mir nicht gefallen, heute bin ich froh, dass ich anders bin.
Aiden: Das Fazit von all dem ist: offen sein, hinterfragen, wer man selbst ist, Informationen von mehreren Standpunkten einholen und interessiert bleiben. Ich finde, man sollte nicht immer darauf hören, was die anderen sagen, aber auch nicht immer weghören. Feed­back ist auch wichtig. Wenn Menschen etwas Gutes von dir denken, bekommst du auch eine Präsenz, du wirst ernst genommen. Allerdings: Du kannst nur ernst genommen werden, wenn du dich selbst ernst nimmst.

Leon: Ich wünsche jedem, dass er als Mensch gesehen wird und seine Persönlichkeit nicht über seine Sexualität oder Geschlechtsidentität definiert wird. Ich glaube, dass wir alle leichter leben, wenn wir einander zuhören und die Erfahrungen der anderen zu verstehen versuchen.

MEHR ÜBER DIE AUTORIN DIESES BEITRAGS:

Viktoria Kery-Erdelyi BURGENLÄNDERIN
© Vanessa Hartmann


Viktória Kery-Erdélyi ist Redakteurin bei der Burgenländerin, hört und schreibt sehr gerne Lebensgeschichten von Jung und Alt, bemüht sich, Menschen, die sich gegen Ungerechtigkeiten engagieren und die Welt zu einer besseren machen wollen, eine Stimme zu geben. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft und ist zweifache Mama.

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