Insektenforscherin Dominique Zimmermann
Wussten Sie das: Alle Insekten der Welt wiegen so viel wie alle Menschen inklusive der Nutzsäugetiere?
© Minitta Kandlbauer
Insekten krabbeln über ihre Tischdecke, sie krabbeln die Wände in ihrem Büro im Naturhistorischen Museum hoch. Ich dachte, nach der Begegnung mit so vielen Insekten – die Sammlung im Museum birgt mehr als 10 Millionen Präparate – werde ich nicht schlafen können. Ich werde die unzähligen Beinchen überall sehen und spüren, so wie man nach Hitchcocks „Die Vögel“ plötzlich Angst vor Vogelscharen hat. Aber das ist nach einem Gespräch mit der Insektenforscherin Dominique Zimmermann ausgeschlossen. Das Gegenteil passiert, sinniere ich beim Essen im Freien vor mich hin, während ich eine Wespe beobachte, die sich ein winziges Stück von den Resten im Teller absäbelt.
Die frisch geweckte Sympathie liegt auch an dem Buch, das die Entomologin – so nennt man Insektenforscher*innen – kürzlich veröffentlichte: „Insektengeflüster“ (Leykam) ist fesselnd, voll bereichernder (und pointierter) Anekdoten, sehr schön von Michèle Ganser illustriert – und es wohnt dem Werk einmal mehr der Appell einer Wissenschaftlerin inne: Wir müssen in die Gänge kommen, der Hut brennt. Sehr.
Wie kamst du auf die Idee, Insektenforscherin zu werden?
Dominique Zimmermann: Meine Mutter ist aus Polen und mein Onkel nahm mich seit meiner Kindheit im Sommer in ein Forsthaus nördlich von Posen mit. Die große Familie, die dort lebt, hat mich quasi adoptiert, weil ich seither jedes Jahr hinfahre (lacht). Das ist die schönste Zeit des Jahres – allein schon, wenn ich Föhren rieche! Das ist einer der Hauptgründe, warum ich zu Biologie kam; die Faszination für Insekten wurde im Studium geweckt. Die Artenvielfalt ist unglaublich groß, ich kann aus dem Vollen schöpfen.
Du schreibst, dass geschätzt rund 80 Prozent noch unerforscht sind – was ist dein Spezialgebiet?
Meinen Einstieg hatte ich mit den Netzflüglern – dazu gehört die Florfliege mit ihren feenhaft großen Flügeln – dank meiner sehr tollen Professorin und Mentorin Ulrike Aspöck, die mich viel über Insekten und Wissenschaft lehrte. Heute bin ich bei den Hautflüglern, sie sind extrem spannend und zählen zu den artenreichsten Insektenordnungen: Ameisen, Bienen, Wespen gehören dazu.
Menschen schauen sich viele Dinge von Insekten ab. Was findest du super?
Extrem faszinierend finde ich Termiten: Sie sind hochsoziale Organismen, die acht Meter hohe, gewissermaßen natürlich klimatisierte Bauten errichten. Sie müssen die Temperatur für ihre Pilzzucht konstant halten, weil sie sich davon ernähren. Bis heute wird die Konstruktion der Bauten analysiert.
Es handelt sich um ein energieeffizientes System, das auch verhaltenstechnisch spannend ist: Denn die relativ einfachen Handlungsinstinkte der Termiten führen in Kombination mit bestimmten Umweltparametern zu sehr komplexen Ergebnissen. Ein anderes tolles Vorbild für technische Innovationen waren auch Käfer, deren Oberfläche um ein Vielfaches weißer ist als Papier; die Struktur, die noch dazu sehr dünn ist, kann somit super die Sonne reflektieren.
Hast du ein Lieblingsinsekt?
Viele! Darum habe ich beschlossen, immer wenn ich gefragt werde, ein anderes vor den Vorhang zu holen (lacht). Ich habe ein aktuelles Beispiel parat: Ich habe den Schmetterlingshaft nach mehr als zehn Jahren das erste Mal wieder in Oberweiden, in Niederösterreich, gesehen. Ich habe mich so gefreut! Er hat gelbliche Flügel mit schwarzen Flecken, ganz lange Fühler mit einer Keule am Ende und riesige Augen. Ein sehr hübsches und tolles Insekt!
Leider keine klassische Wiedersehensfreude, die Artenvielfalt schrumpft, schreibst du. Wieso das Buch?
Ob ich nun Vorlesungen an der Uni halte oder Führungen im Museum mache: Die Wissensvermittlung und der Austausch mit Menschen machen mir viel Freude. Ich möchte für die Lebensrealitäten der Insekten sensibilisieren. Das ist wichtig, um zu verstehen, wie viel einander beide Seiten geben können. Mein ungeschriebener Untertitel ist: mit Empathie für Insekten die Welt retten.
Ich hab ein schlechtes Gewissen: Soll ich keine Gelsen mehr erschlagen?
Bei Gelsen hört für mich die Empathie auf (lacht). Aber natürlich sind sie wichtig für das Ökosystem. Wenn man alle ausrotten würde, hätten wir ein Problem. Kürzlich erzählte Maximilian Prüfers Ausstellung im Wiener Weltmuseum davon, wie Mao Tse-tung in den 1960er-Jahren in China vorging, um die „Spatzen-Plage“ zu beseitigen, weil sie das Getreide aßen. Die Menschen sollten drei Tage lang mit Geschirrgeklapper die Spatzen aufscheuchen, damit sie nicht landen können und aus Erschöpfung sterben. Das klappte, aber im Frühjahr stellte man fest:
Spatzen fütterten ihre Jungtiere auch mit Schädlingen, nun vernichteten die Schädlinge ganze Felder, also setzte man massiv auf Pestizide. Das führte aber dazu, dass es Gegenden in China gibt, wo die Blüten bis heute per Hand bestäubt werden müssen. – Wir handeln oft kurzsichtig, begreifen Zusammenhänge nur am Rande. Wir machen uns kaum bewusst, dass wir auch den Apfel im Supermarkt Insekten verdanken.
Welche Veränderungen siehst du?
Ich habe letztes Jahr eine Studie veröffentlicht, deren Ergebnisse mich selbst schockiert haben: Ich habe mir im Naturschutzgebiet Oberweiden angeschaut, welche Wildbienen vor hundert Jahren vorkamen und wie sich die Zusammensetzung verändert hat. Von den insgesamt 300 Arten wurden mehr als die Hälfte seit den 1960er-Jahren (!) nicht mehr gefunden.
Warum sind Wildbienen wichtig?
Die meisten Wildbienen-Arten bilden keine Völker, sondern sind einzeln lebende Bienen: Jedes Weibchen versorgt seine Brut; sie nisten in offenen Bodenstellen, in Hohlräumen, in Nisthilfen. Sie haben auch eine Rolle im Nahrungsnetz, vor allem sind sie aber wichtige Bestäuber. Während Honigbienen zumeist auf Pflanzen gehen, die aktuell in großer Menge blühen, gehen Wildbienen auch auf einzelne. Ein Beispiel: Die Apfelblüte ist relativ früh dran, spielt das Wetter nicht mit, kann es sein, dass nur zehn Prozent der Blüten durch Honigbienen bestäubt werden. Wildbienen spielen da eine große Rolle.
Wenn wir also deine Erkenntnisse in Oberweiden weiterspinnen …
Die Erträge werden geringer. – Untersucht wurden kürzlich beispielsweise auch Kaffeepflanzen: Kamen drei Bestäuberarten auf einer Fläche vor, wurden rund 60 Prozent der Blüten bestäubt. Waren es 20 Bestäuberarten, waren es 90 Prozent der Blüten. Die Artenvielfalt hat einen direkten Einfluss auf den Ertrag. Das merkt man nicht sofort, weil natürlich auch andere Faktoren wie Frost und Niederschlag hinzukommen. Aber ich kann mir vorstellen, dass wir schon jetzt einen geringeren Ertrag haben als vor 50 Jahren, man führt es nur nicht auf den Insektenfaktor zurück.
Was können wir tun?
Viel! Es gibt einen Spielraum, jede Transformation erfordert Anstrengung, man muss sich nur dafür entscheiden. Insekten sind genügsam, man kann Teile des Gartens ein wenig umgestalten: mit heimischen Blühpflanzen, mit etwas Sand oder Totholz, ein bisschen „Unordnung“ kommt einzeln lebenden Wildbienen entgegen. Es kann sich nicht ausgehen, wenn wir unsere Lebensräume nicht gemeinsam nutzen, das gilt auch für die Landwirtschaft.
Die Arbeit am Buch hat auch mich verändert. Ich habe mich intensiv mit der Biodiversitätskrise auseinandergesetzt, mir wurde bewusst, welche Verantwortung jede*r Einzelne von uns hat, wie wirksam ich selbst sein kann. Beispielsweise, wenn ich möglichst wenig Fleisch konsumiere, weil sehr viele Flächen für das Futter auf eine Weise genutzt werden, wo Insekten keinen Platz haben.
Insekten haben also immer weniger Flächen – und der Klimawandel?
Überschwemmungen und Dürren schwächen und schädigen Populationen massiv; sie verarmen genetisch und sterben leichter aus.
Wie fandest du als Wienerin in Mönchhof eine Wahlheimat?
Das Burgenland ist ein Hotspot für Bienen. Gerade um den Neusiedler See kommen viele Arten vor, die es nirgendwo sonst in Österreich gibt. Ein toller Lebensraum – auch für mich! Als ich vor ein paar Jahren mit dem Kitesurfen begonnen habe, habe ich mich noch mehr in die Gegend verschaut.
Was wünschst du dir für das Buch?
„Insektengeflüster“ soll möglichst viele Menschen für Insekten begeistern, ihre Augen für die wunderbare Welt um uns öffnen, die oft verborgen bleibt, und die uns viel geben kann, wenn wir uns auf sie einlassen.
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MEHR ÜBER DIE AUTORIN DIESES BEITRAGS:
Viktória Kery-Erdélyi ist Redakteurin bei der Burgenländerin, hört und schreibt sehr gerne Lebensgeschichten von Jung und Alt, bemüht sich, Menschen, die sich gegen Ungerechtigkeiten engagieren und die Welt zu einer besseren machen wollen, eine Stimme zu geben. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft und ist zweifache Mama.